Von Linz auf die S10 Richtung Galgenau und Freistadt, weiter über Sandl, Mitterschlag und Etzen nach Zwettl. Dann ist man fast da. Die letzten Kilometer führen durch eine stille Landschaft mit dunklen Wäldern. Zwischen sanften Hügeln liegen kleine Orte, deren klobige Höfe und Kirchen sich trotzig gegen den Wind stemmen.
Waldviertel, Niederösterreich. Das ist seine Heimat. In dieser abgeschiedenen Welt ist er aufgewachsen. Die Kindheit auf dem Bauernhof und das Leben auf dem Dorf haben ihn geprägt. Und was in ihm steckt, hat er auf sein Unternehmen übertragen. Weshalb er 1988 mit dem Credo begann: „Lasst die Bauern wieder Bauern sein.“ Daran hat sich nichts geändert, wie sein Kommentar in der aktuellen Ausgabe des Hausmagazins FREUDE demonstriert. Darin beschreibt er die biologische Landwirtschaft mit ihren kleinen Strukturen als einzige Alternative zu Monokultur, Überproduktion und Ressourcenvernichtung. Mit anderen Worten: „Dorf gut, alles gut.“
Johannes Gutmanns Unternehmen Sonnentor residiert in Sprögnitz, ein paar Dutzend Gebäude, 125 Einwohner*innen. Hier wird mit Kräutern, Tees, Gewürzen und rund 300 Mitarbeiter*innen ein Umsatz von etwa 50 Millionen Euro erwirtschaftet. Wenn man Gutmann fragt, wie das möglich ist, antwortet er: „Wir sind eigensinnige Andersmacher, inspiriert von Tradition und Menschen, Handarbeit, Wertschätzung und fairem Miteinander.“ Und: „Man hat das Gefühl dafür oder nicht. Das ist halt so. Der Planet ist auch wie er ist.“
Sonnentor ist für mich aus drei Gründen ein Vorbild für die Gemeinwohl-Ökonomie. Zum einen hissen sie mutig die Flagge und setzen aus Überzeugung mit anderen einen neuen Trend, obwohl es dafür derzeit nicht nur Lob und Anerkennung in Wirtschaftskreisen gibt. Zum anderen versuchen sie in der vielen Unternehmensbereichen die Gemeinwohlwerte umzusetzen, das reicht von der biologischen Anbauweise über die ökologische Verpackungspolitik bis zum hohen Frauenanteil und der geringen Ungleichheit. Drittens engagiert sich Johannes Gutmann auch als Botschafter und Sprecher der Gemeinwohl-Ökonomie in der Öffentlichkeit, bei Verbänden und Kammern.
Christian Felber
Sonnentor arbeitet von Beginn an ökologisch. Doch Bio allein, so Gutmann, „reicht nicht, ich will, dass es allen, die mit uns zu haben, gut geht“. Deshalb gibt es in Sprögnitz die Leibspeis, in der die Mitarbeiter*innen verköstigt werden; die Lebensmittel kommen vom Frei-Hof nebenan. Gegenüber der Verwaltung ist das Bio-Reich, wo rund um die Uhr regionale Produkte angeboten werden. Sonnentor betreibt einen Kindergarten und wird zu 100 Prozent mit Ökostrom versorgt. Und auch Wertschätzung ist im Waldviertel keine hohle Phrase. Gutmann stellt seine Bauern, also die Kainzens, Zachs und Anthofers, ins Schaufenster, wo immer es geht. Ihre Konterfeis finden sich an den Wänden in Sprögnitz, in Broschüren und Büchern. Es wundert einen auch nicht, dass Gutmann weniger verdient als seine angestellten Geschäftsführer*innen.
2009 begegnet Johannes Gutmann der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ). Er sagt: „Ich habe mich dann ein Jahr damit beschäftigt und festgestellt: Wahnsinn, da gibt es etwas, das ausdrückt, was wir schon lange praktizieren.“ Der erste Gemeinwohlbericht entsteht 2011. Gutmann trifft daraufhin Christian Felber. Das Treffen verstärkt seine Überzeugung. Felber ist der Gründer der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung. Dahinter verbirgt sich ein alternatives Wirtschaftssystem, das auf denselben Prinzipien basiert, die auch menschliche Beziehungen gelingen lassen: Menschenwürde, Solidarität, Transparenz und soziale Gerechtigkeit kombiniert mit Ökologie.
Fünf Pfeiler, mit deren Hilfe der unternehmerische Erfolg neu und anders gemessen werden kann. Herzstück des Systems ist die Gemeinwohl-Bilanz, die auf 20 Kriterien basiert und deutlich besser geeignet ist, unternehmerischen Erfolg zu definieren als die Finanzbilanz. Was bedeutet schon mehr Profit? In der GWÖ zählt Wohlbefinden statt Gewinnmaximierung. Kooperation toppt Konkurrenzdenken. Ehtik und Moral im Umgang mit Menschen und Natur werden belohnt.
„Öko statt Ego“ ist richtig und wichtig. Der BNN spricht in seinem Manifest aus, was uns alle bewegt und Leitfaden unseres Tuns und Handelns ist. Wenn es nach mir ginge, könnten wir das sogar noch frecher und offensiver formulieren.
JOHANNES GUTMANN
Vom Norden Österreichs in den Südwesten Deutschlands. Zwischen einem Idyll im Waldviertel und einem Gewerbegebiet in Freiburg-Hochdorf liegen 730 Kilometer. Doch am Ende entdeckt man mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Daran ändert auch nichts, dass sich vor dem Firmensitz der Taifun-Tofu GmbH ein Symbolgarten mit einem zinnoberroten Torii* und imposanten Skulpturen der vier Elemente befindet.
Ein Besprechungsraum im Erdgeschoss. Gekommen sind drei Damen. Einkaufsleiterin Beate Thießen; Nachhaltigkeitsmanagerin Hilke Johanna Rempe und Lina Cuypers, die für PR und Pressearbeit zuständig ist. Herzliche Begrüßung, lockere Atmosphäre, der perfekte Einstieg, um über eine der großen Erfolgsgeschichten im Biobereich zu plaudern.
Taifun ist Pionier, wenn es um Tofu in Deutschland geht. Schon zehn Jahre nach der Gründung wurde etwa der Anbau von heimischen Sojabohnen initiert. Seit 2005 ist das Unternehmen zertifizierter Saatgutvermehrer für Biosoja. Seit 2011 forscht es mit der Landessaatzuchtanstalt der Universität Hohenheim am Projekt „Ausweitung des Sojaanbaus in Deutschland“. Inzwischen werden jährlich etwa 3000 Tonnen Soja verarbeitet, die von etwa 100 Vertragsbäuer*innen aus Deutschland, Österreich und Frankreich stammen. Jeden Monat verlassen etwa zwei Millionen Päckchen die Produktion in Freiburg. Mit seinen 25 Produkten ist Taifun-Tofu hierzulande unbestrittener Marktführer.
Bemerkenswert, dass der Gemeinwohlgedanke auch Taifun-Tofu von Beginn an begleitete. Die erste Auseinandersetzung mit der Gemeinwohl-Ökonomie erfolgt 2010. Die erste Begegnung mit Christian Felber findet 2012 statt. Lina Cuypers erinnert sich: „Wir haben einen seiner Vorträge gehört und schnell erkannt, dass wir uns da anschließen wollen, weil die Gemeinwohl-Ökonomie viele unserer Überzeugungen vereint.“ Hilke Johanna Rempe ergänzt: „Ich glaube, dass es eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit gibt, Gemeinwohl ist eine Thematik, die alle anspricht.“
„Jetzt müssen wir nur noch viel mehr Unternehmen und Menschen für das Thema sensibilisieren und begeistern“, wie Hilke Johanna Rempe meint. „Ich habe tatsächlich die Hoffnung, dass die Gemeinwohl-Ökonomie in der Gesellschaft mehrheitsfähig werden kann.“
Als wir von ‚Öko statt Ego’ erfuhren, war sofort klar, dass wir da mitmachen. Die Kampagne bringt etwas Positives in die Debatte ein. Wir wollen die Welt verändern. Wir können das aber nicht alleine. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir sagen: „Wir brauchen dich!“ Das haben wir bislang nicht so kommuniziert. Wir postulieren nicht nur „Öko ist toll!“ Wir sagen auch: „Seid aktiv dabei!“ Das gibt der Branche aus meiner Sicht eine neue Energie.
BEATE THIEßEN
In der Zwischenzeit ist Julian Vorberg-Heck, Leiter Vertrieb National, zur Runde gestoßen. Er sagt: „Spannend finde ich, dass dem Konsumenten die Verbindung zwischen Ökologie und Gemeinwohl am Point of Sale noch nicht bewusst ist.“ Wofür Bioprodukte stünden werde wahrgenommen. Das Gemeinwohl dahinter? Nicht wirklich.
„Es gibt Cost Accounting beim CO2, der ökologische Fußabdruck wird überall berechnet. Aber es bleibt dabei: Die wahren Kosten, die etwa durch negative Umweltauswirkungen wie Nitrateintrag ins Grundwasser entstehen, spiegeln sich nicht im Preis des Produktes wider. Die Schäden daraus bezahlt die gesamte Gesellschaft und wirken sich auf viele Folgejahre aus.“
Ideale zu haben ist eine Sache. Sie konsequent zu leben eine andere. Taifun-Tofu steht seit längerem vor dem Problem, dass es die ständig wachsende Nachfrage des Marktes nicht mehr befriedigen kann. Die Kapazitäten reichen nicht aus. Eine Betriebserweiterung steht dennoch nicht an. Wachstum ist nicht immer eine Lösung. Nicht nur, weil die Herstellung von Tofu von einem diffizilen Geflecht von Maschinen abhängig ist, was Investitionen in Maschinen nötig macht. Beate Thießen sagt: „Es geht auch darum, seine Unabhängigkeit zu bewahren und seinen Werten treu zu bleiben.“ Vorberg-Heck meint: „Momentan konzentrieren wir uns darauf, uns mit unseren bestehenden Kunden weiterzuentwickeln.“ Gleichzeitig ist Taifun-Tofu bereit, seine Expertise mit anderen Tofureien oder Start-ups zu teilen, um deren Wachstum zu unterstützen.
Eine Nachricht, die dazu passt: Im Dezember 2019 wurde eine frühreife Sojasorte zugelassen, die theoretisch auf 70 Prozent der Ackerfläche in Deutschland angebaut werden kann. Entwickelt wurde sie in Zusammenarbeit mit der Universität Hohenheim. Die bisher bekannten Sorten eignen sich lediglich für 24 Prozent der Ackerfläche.
Die Gemeinwohl-Ökonomie bündelt sehr viele unserer Überzeugungen und Werte und beschreibt in ihrer Vision eine zukunftsfähige Veränderung der Wirtschaft.
ALFONS GRAF, Geschäftsführer Taifun-Tofu GmbH
125 Kilometer weiter östlich, in Überlingen am Bodensee, kann man die Debatte nahtlos fortsetzen. Der Gesprächspartner diesmal: Sascha Damaschun, Geschäftsführer der Bodan Großhandel für Naturkost GmbH. Er kommt gerade aus Berlin, seiner Heimatstadt, wo er mit 17 zum ersten Mal einen Ökoladen entdeckte. Irgendwann fiel ihm „Die Grenzen des Wachstums“, der Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, in die Hände. Damit stand die Richtung endgültig fest. Sein Studium der Agrarwissenschaften beendete Damaschun schließlich in Witzenhausen. Fazit: „Regional und Öko sind mein Ding.“
In Berlin war er bei einem Workshop des Netzwerks „Die Regionalen – Großhändler für Naturkost“. Womit wir beim Thema sind. Unternehmerischer Eigennutz steht bei diesem Treffen jedenfalls nicht auf dem Programm. Der Rest ist ein druckreifer Vortrag von Damaschun, bei dem es mit keiner Silbe um die üblichen Parameter geht. Der Vollständigkeit halber: Zuletzt betrug Bodans Umsatz etwa 80 Millionen Euro inklusive einem Plus von 6,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die größten Umsatzbringer sind Obst, Gemüse und Milchprodukte.
„Wir haben uns immer als Akteur eines regionalen Netzwerkes begriffen“, sagt Damaschun, „wir sehen uns primär als Motor und Entwickler. Menschen zusammenzubringen und zu motivieren. Lücken in Wertschöpfungskreisläufen zu schließen, gehört essenziell zum Unternehmensanspruch.“ Deshalb pflegen sie nicht nur mit vielen Landwirten, mit denen sie eng verbunden sind, einen intensiven Dialog. Dabei geht es von Anbauberatung über die Entwicklung von Produktideen bis hin zu gemeinsamer Krisenbewältigung. Damaschun: „Das Schöne: Alle hören einander zu, ob jung oder alt, wir haben eine sehr große Offenheit und Klarheit in der Diskussion.“
Die Gemeinwohl-Ökonomie ist für Damaschun in diesem Kontext „ein Modell, um sich nackig zu machen. Uns fehlt ja gemeinhin ein Vokabular, um das auszudrücken, was wir hier machen. Die GWÖ ist ein Instrument, mit dem wir das Denken und Wirken sehr ganzheitlich betrachten können“. Bei jedem Gemeinwohl-Bilanz, so Silva Schleider, bei Bodan für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, „sehen wir, wo wir Fortschritte gemacht haben und auch, wo noch was zu tun ist.“ Allerdings hat Damaschun festgestellt: „Wir sitzen im vierten, fünften Waggon des Zuges, wir schauen auf die Landschaft und können schon viel erkennen, doch die Lokomotive steuern wir noch nicht.“
Ich finde das „Öko-statt-Ego“-Thema gut. Für Bodan macht es absolut Sinn, bei dieser Kampagne dabei zu sein, auch weil sie die Botschaften formuliert, für die wir gemeinsam Lösungen finden müssen.
SASCHA DAMASCHUN
Die Idee kam vom Gründungsgeschäftsführer Horst Müller. Damaschun: „Er dachte: Das ist eine Supersache, sie übersetzt meine Ideen von vor 30 Jahren in eine Sprache, die heute verstanden wird.“ Die erste Gemeinwohl-Bilanz bei Bodan entsteht 2010. Seit 2011 wird der Prozess von den Mitarbeiter*innen getragen. „Auch“, so Schleider, „um uns klarzuwerden, welche konkreten Ziele wir verfolgen, welche blinden Flecken wir noch haben. Den Mitarbeitenden bietet die GWÖ verschiedene Foren und Arbeitsgruppen, dort können sie Themen einbringen und die Entwicklung des Unternehmens aktiv mitzugestalten.“
Bodans Ziel ist aber auch, so Damaschun, „Konsument*innen und Händler*innen zum integralen Bestandteil unseres Projektes zu machen“. Um verständlich zu machen, was Bodan antreibt, welche Werte- und Informationsflüsse die Partner*innen verbinden, haben sie eine Grafik entwickelt. Sie soll den Wertefluss von Anbäuer*in über den Handel bis hin zu den Konsument*innen und wieder zurück sichtbar machen. Die Grafik mache, so Damaschun, „anschaulich, dass jeder Akteur etwas beitragen kann“ und dass es sich bei diesem Wertefluss weder um eine „Einbahnstraße noch eine Sackgasse“ handelt. Wie überall müsse auch hier „eine Menge passieren, dass am Ende etwas Gutes herauskommt“.
Wenn es nach Damaschun geht, besteht nämlich noch lange kein Anlass zu Selbstzufriedenheit. „Wir handeln mit Bioprodukten, das machen wir gut, das ist bekannt – aber sonst? So richtig auf den Punkt bringen, was unser Anspruch im Handel über die Bioqualität hinaus ist, müssen wir noch lernen. Ein Bewusstsein ist da, aber Klarheit und Sprachfähigkeit müssen wir uns noch erarbeiten.“
„Öko statt Ego“ bringt in drei Worten rüber, dass Bio mehr ist als ungespritztes Obst und Gemüse. Es geht ums Ganze. Die Kampagne hat das Zeug, alte Wurzeln, aber auch neue Energiequellen zu aktivieren.
SILVA SCHLEIDER